Kolumne von Pilar Hammerl |
Tosende Wellen reiten. Eine neue Sprache lernen. Bei einem Marathon mitlaufen. Die Welt bereisen. Ein neues berufliches Projekt angehen. Eine Familie gründen …
Wir alle haben sie. Unsere gedankliche To-Do-Liste. Die Ziele und Vorstellungen, die wir noch verwirklichen wollen. Irgendwann einmal … Sobald der ideale Zeitpunkt gekommen ist und wir alles akribisch bis ins kleinste Detail perfekt geplant haben. Aber bitte nicht jetzt.
Immerhin haben wir gerade keine Zeit. Wir sind an unsere Jobs oder Ausbildungen gebunden, haben einen geregelten Tagesablauf, Verantwortung zu tragen und eigentlich funktioniert doch alles ganz gut. Ausreden, die allesamt vernünftig klingen und stets dafür sorgen, dass wir uns weiterhin nicht von der Stelle bewegen. Mit ihnen schieben wir nicht nur die großen Dinge im Leben vor uns her, sondern auch die kleinen Unbequemen. Die, die Anstrengung oder Überwindung kosten.
Herzlich willkommen in der Komfortzone
Unser gewohntes Umfeld aus Routinen, Gedanken und Gefühlen. Jener Bereich, in dem wir uns auskennen. Hier muss unser Gehirn keine smarten Lösungen mehr finden, geschweige denn sich großartig anstrengen. Hier funktioniert es einfach. Effizient und sicher. Wie am Fließband. Aber eben auch auf Sparflamme. Also starten wir unseren Tag stets mit den gleichen Abläufen und Routinen. Wir reagieren auf unangenehme Situationen immer auf dieselbe Art und Weise. Wir kneifen, wenn uns ein Vorhaben verunsichert. Wir schieben Entscheidungen vor uns her, weil es bequemer ist, sie einfach zu ignorieren. Und ehe wir uns versehen, erleben wir jeden Tag eine Kopie von gestern.
Ein Hoch auf die Vollkasko-Mentalität
Doch was kommt dann? Erst die Routine, dann die Langeweile und schlussendlich der Frust? Frust darüber, dass wir Chancen nicht genutzt und unsere Zeit vergeudet haben? Unsere Ziele – ob privat oder beruflich – weiterhin ein Gemisch aus Wunschdenken und Zukunftsgefasel sind? So oder so ähnlich behaupten das zumindest sämtliche Erfolgs-Menschen, Psychologen oder Wissenschaftler, die uns öffentlich an ihren beeindruckenden Werdegängen teilhaben lassen. Sie alle kommen zu folgendem Schlüsselgeheimnis: Wer seine Ziele erreichen möchte, müsse seine Komfortzone verlassen. Denn persönliches Wachstum wäre nur dann möglich. Oder anders ausgedrückt: „Das Leben beginnt am Ende Deiner Komfortzone!“
Ich wette, Ihr alle kennt derartige Aussagen und Zitate. Fast schon inflationär verbreiten sich jene Schlagzeilen, die uns dazu animieren sollen, unsere „Wenns und Abers“ endlich an den Nagel zu hängen. „Raus aus der Komfortzone“ scheint der neueste Brüller zu sein. Und beim Schreiben muss ich fast selber darüber lachen, wie Old-school dieser Satz gerade klingt. „Der neueste Brüller.“ Aber es ist so. Mir zumindest ist diese Aufforderung in den letzten Wochen ungefähr 100-mal über den Weg gelaufen. Sei es auf Twitter, in Blogs, Zeitungen, im beruflichen Kontext oder aber bei einem Gespräch mit meiner Mutter.
Mit ihr philosophiere ich regelmäßig über meine Ziele und darüber, wie ich gedenke, sie zu erreichen. Und obwohl ich zu den Menschen gehöre, die felsenfest behaupten, sie wissen ganz genau, wie sie ihre Ziele erreichen, endete dieses Gespräch nicht nur mit einer neuen Erkenntnis, sondern auch mit einem leicht beunruhigendem Appel an mein recht ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis. Denn auch meine Mutter schloss sich den Experten-Meinungen an und riet mir dazu, meine Sichtweisen und meinen Horizont zu strecken. Kurz gesagt: „Raus aus der Komfortzone und das jeden Tag.“
Bitte was? Jeden Tag?
Für mich als rational denkender Mensch mit einem leichten Hang zum Perfektionismus und einer Vorliebe für gedankliche SWOT-Analysen klang das erstmal alles andere als nach einem sinnvollen Plan. Denn: Immerhin habe ich gerade keine Zeit. Ich bin an mein Umfeld gebunden, habe Verantwortung zu tragen und eigentlich funktioniert doch alles ganz gut. Diese Sätze dürften Euch bereits bekannt vorkommen. Die geliebten Ausreden, die wir gerne verwenden, um das Offensichtliche nicht aussprechen zu müssen. Denn was hindert uns wirklich? Was passiert, wenn wir unsere Komfortzone verlassen? Wir wissen es nicht. Unser Gehirn hat keine Erfahrungswerte parat. Keine klugen Lösungsansätze für auftretende Eventualitäten. Also reagieren wir mit Stress oder gar Angst. Angst davor zu scheitern, abgelehnt oder verletzt zu werden. Und mal ehrlich, was könnte schlimmer sein? Also entscheiden wir uns lieber für die sichere Rolle rückwärts.
Trial and Error
Doch prüfen wir die Fakten – das mache ich gerne. Wir alle kennen die Horrorszenarien in unseren Köpfen, die uns vor allem Neuen und Unbekannten warnen. Was könnte nicht alles passieren und schiefgehen? Wir könnten mit Pauken und Trompeten versagen, uns bis auf die Knochen blamieren, eine Bruchlandung hinlegen … Und dennoch gibt es diese Momente, in denen wir auf neue und ungewohnte Situationen treffen. Wir werden entweder regelrecht ins kalte Wasser geschubst oder entscheiden uns in einem mutigen Moment selber für den Schritt außerhalb unserer Schranken. Wie viele der Horrorvisionen, die wir uns vorher so bunt und bildlich ausgemalt haben, treten tatsächlich ein? Als ich mir diese Frage stellte, wurde mir schnell bewusst, dass 98 % meiner befürchteten Worst-Case-Szenarios nie eingetreten sind. Und falls doch dieser eine Griff ins Klo dabei war, war das Gedankenkarussell vorab definitiv lebendiger und schlimmer als die Erfahrung selbst.
Letztendlich geht es nämlich nicht darum, auf Anhieb alles perfekt zu machen, sondern darum, seinen Horizont zu erweitern. Diese Tatsache klingt in der heutigen „Null-Fehler-Generation“ alles andere als sexy, ich weiß. Auch ich dürfte meine Fehlertoleranz ruhig noch etwas optimieren. Aber sobald wir uns ehrlich reflektieren und uns fragen, aus welchen Situationen und Erfahrungen wir die meisten Erkenntnisse gewonnen haben, sind es selten die erfolgreichen oder gar „stillen“ Phasen des Lebens gewesen.
Getreu dem Motto: „Trial and Error“ (Versuch und Irrtum) habe ich also versucht, den Ratschlag meiner Mutter zu befolgen. Wer jetzt vermutet, ich hätte die letzten Wochen jeden einzelnen Tag waghalsig mein Leben aufs Spiel gesetzt, irrt sich. Denn „Raus aus der Komfortzone“ bedeutet nicht, dass Ihr jeden Tag nur die großen Bungeesprünge des Lebens vollbringen müsst. Oftmals reichen auch kleine Veränderungen, die Eure Sichtweisen strecken und damit Eure „Wenns und Abers“ Schritt für Schritt verschwinden lassen. Denn mit jeder Erfahrung außerhalb der Komfortzone werdet Ihr selbstsicherer. Dann begegnet Ihr Herausforderungen nicht mehr mit Angst, sondern mit Souveränität und Selbstvertrauen. Und was könnte besser sein, wenn es um das Erreichen eurer Ziele und Wünsche geht?
An dieser Stelle will ich mich keinesfalls als Expertin auf diesem Gebiet ausgeben. Aber das eben Geschilderte sind die Erkenntnisse und Erfahrungen, die mich meines Erachtens weitergebracht haben. Seitdem habe ich außerdem begriffen, was meine Mutter mit der Aussage „Du weißt nie, was daraus entsteht“ immer meint. Alles zahlt auf alles ein. Die berühmte Kausalkette. Plötzlich ergeben sich neue Perspektiven, die man vorher nicht für möglich hielt. Ein Dominostein nach dem anderen setzt sich in Bewegung. Nur den Anstoß muss man selber machen.
Vergeudet Eure Zeit also nicht mehr damit, auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Durchbrecht Eure Routinen. Sammelt neue Erfahrungen und traut Euch die Dinge anzugehen, die Ihr schon immer mal machen wolltet oder vor denen ihr Angst hattet. Denn jede noch so kleine Entscheidung könnte sich schlussendlich als die beste Entscheidung Eures Lebens entpuppen. Wer weiß das schon? Und mal ehrlich, wer will sich in 50-60 Jahren immer noch die Frage „Was wäre, wenn?“ stellen müssen?
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